Singen im Gottesdienst: Kräftig gesungen oder tapfer durchgehalten?

Singen im Gottesdienst: Kräftig gesungen oder tapfer durchgehalten?

Das gemeinsame Singen scheint in der Kirche selbstverständlich zu sein. Für viele Gemeinden der SELK ist die Kirchenmusik ein wichtiger Baustein im Gemeindeleben und hat sein Zentrum im Gottesdienst. Aber wie ergeht es da den Beteiligten? Fröhliche und kräftige Beteiligung oder eher peinliche Zumutung?

Singen ist ein äußerst intensiver und intimer Vorgang. Und wie so oft im Leben haben Menschen ganz unterschiedliche Zugänge zum Singen. Die einen singen seit Kindertagen. Sie empfinden es als selbstverständlich, und sie scheuen es nicht, gemeinsam mit anderen ihre Stimme zu erheben. Sie freuen sich, wenn sie im Gottesdienst sitzen und sich zum angegebenen Gesangbuchlied irgendwo in den Untiefen ihres Bewusstseins ein vierstimmiger Satz im Speicher findet. Dann setzen sie ab der zweiten Strophe in ihrer Stimme ein, und es entsteht ein wunderbarer Klang: vierstimmiger Gemeindegesang.

Anderen gelingt solch selbstbewusstes Singen zwar beinahe täglich, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Unter der Dusche singen sie Heldenarien. Mit Koloratur und Timbre. Spielerisch beenden sie den Auszug ihrer Lieblingsoper, öffnen die Tür der Duschkabine und werden erst beim nächsten Duschvorgang den Gesang wieder aufnehmen. Wenn diese Menschen im Gottesdienst sitzen, dann bewegen sie nur leicht ihre Lippen. Lautes Singen wäre ihnen ziemlich peinlich. Und werden sie von einem enthusiastischen Chorleiter angesprochen, doch auch im Kirchenchor mitzusingen – meist geschieht das mit einem kräftigen Schlag auf den Rücken und bebender Stimme: „Jeder kann Singen!“ –, dann winken sie lachend ab. „Ich? Im Chor? Nee, lass mal.“

Was in unseren Gemeinden immerhin noch sonntäglich geschieht – mit ganz unterschiedlichen Emotionen und Empfindungen und auch ganz unterschiedlicher Qualität –, das nimmt gesamtgesellschaftlich eher ab. Wollte man vor hundert Jahren Musik erleben, musste man sie selber machen. Gemeinsames Singen war ein beinahe alltäglicher Vorgang. Am Abend unter der Linde im Dorf. Bei der Kirmes, im Kirchenchor, auf den Geburtstagsfeiern. Volkslieder waren tatsächlich Lieder eines ganzen Volkes. Wer heute in einer Pflegeeinrichtung für alte Menschen das Lied „Kein schöner Land in dieser Zeit“ anstimmt, kann sich sicher sein, dass fast alle alten und inzwischen gebrechlichen Stimmen einstimmen werden.

Singen als umfassende, jeden Menschen ergreifende und jedem Menschen mögliche Form des Musizierens erhebt uns, lässt uns Freude, Licht und Schatten erleben, bringt Mut, Zuversicht und Trost in die Herzen.

In der aktuellen Zeit und Gesellschaft gibt es kaum noch solch verbindendes Liedgut. Was werden wir eigentlich in den Pflegeheimen singen?
Allerdings ist eines gleich geblieben: das Bedürfnis nach Musik. Es ist immer noch groß, nur wird heute Musik vor allem konsumiert. Und dabei gibt es kaum noch allgemein verbindende Musik, sondern ein sehr ausdifferenziertes Musikangebot, zu dem man quasi überall und zu jeder Zeit Zugriff hat: beim Joggen, im Auto, auf dem Schulhof. Was bedeutet dieser gesellschaftliche Wandel, der zunächst einfach zu konstatieren ist, für das Singen in unseren Gemeinden? Auch dort ist der Wandel deutlich spürbar. War es für die jungen Menschen bis vor etwa 20 Jahren vor allem in den Dorfgemeinden noch selbstverständlich, entweder im Singchor oder im Posaunenchor und im besten Fall in beiden Chören mitzuwirken, müssen heute viele Kirchenchöre ihre Arbeit aufgrund mangelnden Nachwuchses bald einstellen. Das ist ein trauriger Prozess für eine Gemeinde, und ein hohes Gut im Gemeindeleben geht verloren.

Klar, es gibt auch Gemeinden in unserer Kirche, in denen die Chöre weiter guten Zulauf haben. Gemeinden, in denen sich neue Chöre gegründet haben. Aber wie wird das Singen in Zukunft in den Gemeinden erhalten bleiben können, die tendenziell eher kleiner werden? Es gibt bereits viele kreative Ideen und Versuche, mit dieser Herausforderung umzugehen. Chorprojekte mit externen Chorleitern werden ins Leben gerufen, die punktuell die Kirchenmusik neu erleben lassen und Menschen zum Singen begeistern, die bisher keine klassische Chorsängerkarriere in ihrer Biografie vorweisen können. Solche Projekte bieten die Chance, neben der traditionellen Kirchenmusik auch Lieder aus der christlichen Popularmusik zu singen. Dadurch lassen sich manches Mal neue Sänger finden. Gleichzeitig ist klar: Das ist eine andere Chormusikarbeit als bisher.

Solch ein Projektchor kann nicht auf jeder Beerdigung singen. Auch nicht zu den runden Geburtstagen und auch nicht regelmäßig im Gottesdienst. Aber immerhin bieten solche Chorprojekte neue Anknüpfungspunkt und für einen abgesteckten Zeitrahmen eine begeisternde Chormusik. Diese Projekte, die meist mit einem Gottesdienst abschließen, der von dem Projektchor mitgestaltet wird, können sich zu Höhepunkten im Gemeindeleben entwickeln. Dafür müssen Gemeinden aber geeignete Chorleiter finden und sich entscheiden, Geld in die Hand zu nehmen.

Aber wie ist das mit dem allsonntäglichen Gemeindegesang? Ein Glück, wenn eine Gemeinde einen Organisten hat, der durch sein Orgelspiel den Gemeindegesang und die Liturgie trägt. Danken sie ihm regelmäßig für seine Arbeit. Wenn Gemeinden keine Organisten mehr aufbieten können, springt vielerorts der Posaunenchor ein. Auch das ist eine große Aufgabe, beinahe sonntäglich die Gemeinde zu begleiten. Auch denen tut ein „Dankeschön für eure Musik“ gut. Und in manchen Gemeinden singen die Mitfeiernden a cappella. Ohne Begleitung. Aber eines erscheint mir in jedem Fall wichtig: mit wachem Geist an den Stellschrauben zu drehen, die das gemeinsame Singen allein durch die äußeren Bedingungen fördern. Die einen Raum anbieten, in dem das Singen leicht fällt. Es gilt also, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man gerne mitsingt. Oder mitbrummt.

Oder auch nur zuhört. Eine Voraussetzung ist diese: Nähe zueinander. In einer großen Kirche mit einer großzügigen Empore hat der Posaunenchor, der Sonntag für Sonntag den Gottesdienst begleitet, seit jeher seinen Platz oben auf der Empore. Das macht auch Sinn, damit im Kirchenschiff ausreichend Bänke für die anderen Gottesdienstbesucher zur Verfügung stehen. Haben sich aber die äußeren Bedingungen verändert, sitzen im sonntäglichen Alltag mit den Bläsern und deren Angehörigen mehr Menschen auf der Empore als im Kirchenschiff und verteilen sich die Mitfeiernden im unteren Teil der Kirche vor allem weitläufig im hinteren Teil, dann scheinen Veränderungsmöglichkeiten auf der Hand zu liegen.

Es lohnt sich dann als Gemeinde, einen Prozess zu starten, um eine träge Liturgie wieder in Gang zu bekommen. Um Gemeindegesang wieder zusammenzuführen. Um Gottesdienst wieder als Gemeinschaft zu erfahren. Es kann sich dann als sinnvoll erweisen, zwei Bänke im vorderen Teil der Kirche auszubauen, Stühle für den Posaunenchor aufzustellen, als Gemeinde im vorderen Teil der Kirche zusammenzurücken. Diese Veränderungen der äußeren Bedingungen können im besten Fall dazu führen, dass sich die Menschen in der Kirche wieder gegenseitig hören, dass Stimmen zusammenklingen, dass Gemeindegesang auch mit wenigen wieder als kräftig wahrgenommen wird.

In jedem Fall aber wird es sich lohnen, als Gemeinde darüber ins Gespräch zu kommen. Welche Stellschrauben erkannt und gedreht werden können. Denn damit ist ja vor allem eines im Blick: das Lob Gottes gemeinsam zum Ausdruck zu bringen, sich die Frohe Botschaft gegenseitig ins Herz zu singen und zu musizieren und Gottesdienst als Gemeinschaft miteinander und mit Gott erfahrbar werden zu lassen. Denn genau dies vermögen das Singen und die Kirchenmusik in unseren Gottesdiensten: Sie bewegen seelische Tiefenschichten unseres Menschseins, die das gesprochene Wort kaum erreichen kann.

Benjamin Anwand
(Quelle: Lutherische Kirche. Kirchenblatt der SELK, 48. Jahrgang 5/20017, S. 10-11)