„Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!“ – Ps 133,1
Albert ist am Sonntag früh auf. Die ʻlockdownʼ Zeit hatte trotz mancher finanziellen Rückschläge seinen Segen gebracht. Die Ruhe, nach der er sich davor so sehr gesehnt hatte, die hatte sich durch die äußerlichen Bestimmungen nun bei ihm verbreitet und wie es scheint auch in der Familie. Trotzdem war er an diesem Sonntagmorgen wieder früh auf und machte die nötigen Vorbereitungen für den Hausgottesdienst mit der Familie. Sie würden später beim Gemeindegottesdienst über Youtube einschalten. Welch ein Vorrecht!, dachte er. Trotz der Ausgangssperre konnten sie täglich Andachten über Whatsapp hören. Und sie konnten wöchentlich den Gottesdienst über Distanz mitfeiern, Gottes Wort hören, singen, beten. Er dachte an seinen Konfirmationsspruch: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben“. Das Evangelium, das Wort Gottes, eine Kraft! Trotz der Distanz! Wie auch die Briefe des Paulus als Wort Gottes wirkmächtig waren, trotz dessen, dass er nicht da war, sondern viele Kilometer von den Gemeinden entfernt. Heute gab es dank der Technologie andere Mittel, Smartphones, SmartTvs, Zoom und vieles mehr.
Und doch konnte dies niemals eine permanente Lösung sein. Gottesdienst auf Distanz, das schien ihm ein Widerspruch. Genauso wie Christsein für sich, ganz allein, oder einfach in der Familie doch auch nicht mit dem Bild der neutestamentlichen Gemeinde sich vereinbaren ließ. Mehr als eine Notlösung in dieser Situation waren diese Youtube Gottesdienstübertragungen doch nicht. Da fehlte das Abendmahl! Da fehlte die Gemeinschaft der Glaubensgeschwister untereinander. Hieß es nicht nach dem Pfingstereignis, dass der Herr täglich zur Gemeinde hinzufügte? Ja, der Herr rettete nicht einfach Einzelne für sich, sondern er fügte sie zu einer Gruppe hinzu – Gemeinschaft mit ihm und untereinander. Er musste an die verschiedenen biblischen Bilder für die Gemeinde denken. Da redet die Bibel nicht vom Einzelnen und seinem Coach, sondern von einer Herde mit Christus als guter Hirte; von einem Volk; von einem Leib mit vielen Gliedern und Christus das Haupt; von einem Tempel, von Christen als lebendigen Steine im Bau Gottes. Gab es noch andere Bilder? Oh ja, Christus der Weinstock, wir die Reben! Nach einer Weile dachte er auch an Christus der Bräutigam, die Gemeinde die Braut. Erstaunlich, dachte er! Wie kann man eigentlich von einem privaten Glauben sprechen? Kein Wunder, dass ihm diese Youtubelösung mangelhaft erschien, so sehr er sie schätzte. Und das lag nicht nur an die Soloaufführung des Pastors da vorne, sein eigentümliches Singen oder die unprofessionelle Videoaufnahme, die mit den Standards heutiger Aufnahmen kaum mithalten konnte. Nein, so wunderbar es war und so gemütlich es auch vielfach wurde, besonders jetzt in dieser Kälte das Wort Gottes im Wohnzimmer zu hören, so war der Gottesdienst doch mehr, viel mehr. Ihm fehlte besonders das Abendmahl! Und nicht einfach dabei die enge Verbundenheit mit Christus, sondern auch die Verbundenheit mit den Glaubensgeschwistern seiner Gemeinde. Betete der Pastor nicht nach dem Abendmahl: „hilf uns dadurch zu starkem Glauben an dich und zu brennende Liebe unter uns allen“?
Ja, ihm fehlte die Gemeinschaft untereinander. Welch ein Gnadengeschenk ist doch diese Gemeinschaft untereinander. Das hatte er davor als selbstverständlich hingenommen. Manchmal sogar verachtet, indem er Gottesdienste ausfallen ließ, weil ihm die Familie wichtiger war. Da konnten sie doch an einem Sonntagvormittag schnell eine gemeinsame Andacht halten und abends konnte er die Predigt über Whatsapp nachholen. Was er nun vermisste, war nicht nur Zugang zum Haus Gottes und damit verbunden Gottes Wort ins Ohr und auf die Lippen gebracht, sondern auch seine Glaubensgeschwister, das Beisammen-sein, das gemeinsame Singen, die Möglichkeiten den anderen wahrzunehmen, ihn zu sehen, zu hören, ihm die Hand zu geben, ihn zu umarmen. Ja, zum Christsein gehört sowohl die Gemeinschaft mit Gott als auch die Gemeinschaft untereinander. Denn Christsein ist nicht einfach eine persönliche Erfahrung, richtige moralische Werte und eine entsprechende Lebensführung als Einzelne oder in einer Familie, oder ein Ansammeln der nötigen Kenntnisse und Wissen über Gott. Nein, Christsein ist Gemeinschaft mit Gott. Und es ist Gemeinschaft untereinander.
Mit neuer Energie würde er sich wieder eifrig bemühen die Gottesdienste aufzusuchen. Mit der dankbaren Erkenntnis, die er in dieser Zeit gewonnen hatte, dass solche Gemeinschaft untereinander nichts Selbstverständliches ist.
Würde solche Energie und Erkenntnis aber halten? Er war sich nicht so sicher. Denn die Gottesdienste würden doch bestimmt nicht plötzlich wie normal weitergehen. Da wäre eine ungemütliche Zwischenstufe: Masken, Hand Sanitzers, Social Distancing, Anmeldelisten, Gottesdienst in kleineren Gruppen gebunden an bestimmte Zeiten, Abendmahl mit Einzelkelch, das würde doch auf die Dauer nerven und entfremden. Würde ihm dann noch die Gemeinschaft untereinander wichtig sein? Abgesehen von der Krankheit und die Gefahr, die sie mit sich bringt, besonders für Ältere und chronisch geschwächte Leute. Für ihn, der jung und gesund ist, da wäre es doch eine große Versuchung einfach alles zu lassen und gemütlich wie inzwischen normal diesen Youtube Gottesdienst zu folgen. Da könnte er auch auswählen, welchen Gottesdienst ihm gefallen, welche Uhrzeit ihm gemütlich passt und so weiter. Nein, die Gemeinschaft untereinander bräuchte mehr als einfach Energie und eine neu entdeckte Erkenntnis, wie schnell so etwas nicht möglich sein kann. Aber was?
Ihm viel die Andacht in der vergangenen Woche ein: Christus „ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat“ (Eph 2,14). Da hatte der Pastor etwas darüber gesagt, dass wir nicht nur Christus brauchen für die Gemeinschaft mit Gott, sondern auch Christus für die Gemeinschaft untereinander. Dass wir nämlich in dem anderen einen sehen, für den Christus sein Leben am Kreuz gegeben hat. Dass Christus sich gerade im Nächsten finden lässt, wenn er sagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Nicht nur für sich würde er also zum Gottesdienst gehen und sich dem aussetzen, was unter den Vorsichtsmaßnamen geboten ist, sondern für den Nächsten. Ein Blick, ein kurzes Wort, ein Ohr zum Hinhören, das kann dem anderen in dieser Zeit viel bedeuten, vor allem vielleicht solchen, der nicht wie ich eine Familie um sich hat oder schmerzfrei und gesund diese ungemütliche Zeit durchstehen kann. Zu dieser Aufgabe würde er wiederum Christus brauchen, seine Gnade, seine Vergebung, seine Liebe, seine Kraft, damit er nicht alles nach seinen eigenen Lustgefühlen und Wünschen tun würde.
Er schaute auf die Uhr und hörte wie die Dusche ansprang. Seine Frau war wach. Bald würden die Kinder auch aufstehen und sie würden gemeinsam frühstücken. Dann der Gottesdienst in der Stube, die Kraft des Evangeliums, dachte er und schmunzelte. Trotz dieser Situation war er erfüllt mit Dankbarkeit. Er wollte inzwischen noch eine Kantate zum Sonntag hören, da viel ihm die Adressenliste der Gemeinde auf. Welch ein reicher Segen!, musste er denken. Ein Freund hatte ihn auf die Idee gebracht. Bete täglich für deine Gemeinde und nutze die Adressenliste, denn da sind alle drauf, sogar auch die Pastoren und manche Notnummern der Ärzte und andere, die man in seinem Fürbittengebet miteinschließen könnte. Er hatte den Rat gefolgt und die Adressenliste genommen und angefangen zu beten, für Einzelne und ihre Familien und für andere. Zu Anfang hatte er solche übersprungen, mit denen er sich nicht so gut verstehen konnte, die anders ʻticktenʼ als er. Er hatte sich erst auf andere Personen konzentriert, die er mochte, die ihn liebten. Doch irgendwann schien ihm das zu kindisch und er schloss auch diese in seiner Fürbitte mit ein. Irgendwann musste er eingestehen, dass ihm diese Leute besonders wertvoll wurden, er sah sie immer mehr in ein anderes Licht, in Christi Licht. Als solche, die wie er aus Gnaden allein durch Christus zur Gemeinde gehörten, als solche die durch Christus mit dem Heiligen Geist erfüllt waren. Ja, er brauchte nicht nur Christus für die Gemeinschaft mit Gott, sondern auch für die Gemeinschaft untereinander. Christus als Mittler zwischen Gott und ihm und Christus als Mittler zwischen dem Nächsten und ihm. Er nahm die Liste erneut zur Hand. Zeit hatte er ja genug.
„Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre“ (Römer 15,7).
Mit herzlichen Grüßen,
Euer Pastor Helmut Paul