Ein Weihnachtsgeschehen
Großvater war alt. Seine Beine waren steif, sein Herz schwach, doch sein Geist wach und offen.
Ins Kabinett des Hauses, in dem sein Sohn wohnte, hatte man ein Bett für ihn gestellt, dazu ein Nachtkästchen, ein Handy für den Notfall, Radio und Fernseher als Ablenkung.
Ablenkung – wovon? Vom Leben? Vom Sterben? –
Was war das für ein Leben! Morgens versorgte ihn die Schwiegertochter, wusch ihn ein wenig und verabschiedete sich dann für den Tag. Mittags kam Enkel Andreas von der Schule und teilte mit ihm sein in der Mikrowelle gewärmtes Mittagessen, setzte sich ein wenig zu Großvater und drückte ihm seine Hand. „Erzähl ´mir von früher, als du klein warst!“ bat er dann meistens. „ Was möchtest du denn hören? Die Zeiten waren anders, ganz anders!“
Körperlich alterte der Mann stetig. „Am besten, wir geben ihn in ein Heim“ sagte eines Abends die Schwiegertochter zu ihrem Mann. „Was ist das noch für ein Leben! Ein tägliches Warten auf das Sterben! Es ist mir einfach zu anstrengend!“ „Ja“, meinte dieser, „ es wird wohl das Beste für uns alle sein!“
Und so suchte der Sohn für seinen alten Vater nach einer geeigneten Bleibe. Es dauerte nicht lange, da hatten sie ein schönes Pflegeheim gefunden.
„Wir haben einen Platz für dich, wo du gut aufgehoben bist!“ sagte am Vorabend der Übersiedlung die Schwiegertochter zum Vater. „ Es wird dir sicher gefallen. Es liegt ganz nahe, so können wir dich leicht besuchen!“
Was hätte Großvater antworten sollen? Er nickte ein zustimmendes „Ja“ und fragte nur: „Andreas, was sagst du dazu? Wirst du manchmal zu mir kommen?“
Die Umstellung aber bedeutete etwas Neues in Großvaters Leben und in seinem Alltag.
Morgens wurden die Alten, wenn sie nicht mehr gehen konnten, in ihren Rollstühlen in den großen Aufenthaltsraum geschoben.
Dort flimmerten, viel zu schnell für sie, die bunten Bilder vom Fernseher den ganzen Tag lang. Zur Ablenkung.
Ablenkung? Wovon? Vom Leben? Vom Sterben?
Im Sommer war das noch anders gewesen: damals waren die Heimbewohner in ihren Rollstühlen in den Schatten des großen Lindenbaumes im Hof geführt worden, oder in den kleinen bunten Blumengarten mit Hochbeeten, bei deren Anlegen die „Ehrenamtlichen“ geholfen hatten. Zwischen den Büschen am Rand tummelten sich Scharen von Spatzen, flatterten und zwitscherten fröhlich.
Über allem der blaue Himmel, die langsam dahin ziehenden weißen Wolken, deren Form sich laufend veränderte, und wer das beobachten konnte, dem war die Zeit nicht mehr von Bedeutung. „Wie schön diese Wolke ist!“ rief eine alte Frau .
Und Besucher kamen und setzten sich gerne für ein Plauderstündchen dazu.
Doch jetzt war es Spätherbst geworden.
Draußen welkten die Blumen und die Blätter fielen von der Linde. Langsam, eines nach dem anderen. Sie fielen sanft zur Erde. Die Wege im Hof waren mit einem gelben Teppich überzogen.
Andreas kam oft nach dem Nachmittagsunterricht vorbei.
Großvater stellte ihm seine Lieblingsschwester vor, eine fröhliche, junge Frau, die ihren Beruf liebte. „ Heute hat wieder einmal Schwester Paulina Dienst!“ bemerkte er und lächelte seinem Enkel mit Augenzwinkern zu.
So war der neblige Herbst nicht trostlos, und die langen Tage leichter zu ertragen.
Mutter sah die Besuche ihres Sohnes im Heim nicht gerne, sie bemerkte eine gewisse Verträumtheit und ein Desinteresse an schulischen Dingen. „Du lernst zu wenig“, meinte sie eines Tages, du wirst die Klasse nicht schaffen!“
In den Wochen des Advent gab es für die Heimbewohner ein vorweihnachtliches Programm.
Die großen Kinder des Kindergartens kamen und sangen die seit Jahrhunderten gleich gebliebenen Weihnachtslieder. „Ihr Kinderlein kommet“. „Alle Jahre wieder“. „Süßer die Glocken nie klingen“. Sie schenkten den Alten kleine Glöckchen zum Läuten und Mitsingen.
Erinnerungen von früher fielen da ins langsam gewordene Gedächtnis ein, Erinnerungen aus der Vergangenheit ans Christkind. In jedem flackerte erneut sein eigenes Lebenslicht auf, und wer noch irgendwie zu fühlen imstande war, erlebte seine Kinderzeit wieder.
In der zweiten Adventwoche erschienen Schüler der nahen Volksschule und spielten die Weihnachtsgeschichte. Sie banden die alten Menschen mit ein, gaben ihnen die Rolle von Hirten oder den Heiligen Drei Königen. Großvater übertrugen sie den Josef, und das kleine Brüderchen eines Schülers, ein paar Monate alt, lag doch glatt als lebendiges Jesuskind in einer „Krippe“! Dies sorgte natürlich für viel Kurzweil.
Denn alles wurde dargestellt: die Herbergsuche mit dem Lied „Wer klopfet
an?“, die Verkündigung der Geburt des kleinen Kindes den Hirten durch die Engel, die Geschenke, die die Heiligen Drei Könige mit brachten.
Uralte Menschheitsthemen: das Hell werden der dunkelsten Nacht, die zugleich dunkelste Zeit ist oder die Suche nach einer Herberge, einem schützenden Dach über dem Kopf: Ablehnung oder Annahme des Menschen, und dem Göttlichen in ihm. Ausgeschlossen werden und einschließen, so wie es damals wie heute überall auf der Welt geschieht.
Andreas traf mitten ins Spiel hinein und bemerkte gleich die Tränen auf Großvaters Wangen.
„Bald ist Weihnachten!“ sagte er zu seinem Enkel, „bald!“
„Ja“, antwortete der Bub, „Dann kommen wir alle auf Besuch zu dir!“
Eines Morgens waren die gelben Blätter im Hof hauchzart vom ersten Schnee bedeckt.
Das Weiß des Winters löste die bunten Farben des Herbstes ab.
Weihnachten rückte näher. Am vierten Adventsonntag trat ein Chor im Heim auf.
Die in bunte Tracht Gekleideten sangen schöne Weihnachtslieder aus Kärnten. „Wo is denn im Schnee no a Wegle zu dir, Kindle klan, Kindle fein…“
„wirst mi tröstn, wirst mi tragn, wirst mei Liacht ume sein“….
Sprechen nicht alle Texte von demselben? Vom Trost , vom Licht in der Weihnachtszeit? Großvater weinte wieder, wie das bei den alten Menschen so leicht geschieht, wenn die Tropfen der Erinnerung zu tief ins Gemüt eintauchen.
Der Heilige Abend war endlich gekommen. Andreas wurde von seinen Eltern zur Kindermette geschickt, vorher schaute er aber noch bei Großvater vorbei.
Der saß allein im Zimmer und wirkte müde, doch sein Gesicht war irgendwie verändert. Waren seine Augen anders als sonst? Schwester Paulina war bei ihm.
„Lieb von dir, dass du gekommen bist!“, brachte der alte Mann mühsam hervor. „Ich bin müde, sehr müde! Paulina hat heute Nachtdienst, du weißt, sie ist meine Lieblingsschwester!“ „Setz dich zu ihm, Andreas“, meinte Paulina, „ich muss noch zu den anderen schauen!“
Und so blieb Andreas.
„Mir ist eine Geschichte eingefallen, die ich dir noch nie erzählt habe! Die ich noch niemandem erzählt habe! – Möchtest du sie hören?“
„Ja, bitte, Opa, hast du sie erfunden?“ „Nein“, antwortete dieser und schüttelte seinen Kopf. „Das ist keine erfundene Geschichte! Sie ist wirklich wahr!“
Und so erzählte Großvater langsam, Satz für Satz, als würde er seinem Enkel Erinnerungen vorlesen, aus dem Buch seines eigenen Lebens, seines eigenen langen Lebens.
„Es war Heiliger Abend in meiner Jugendzeit. Wie immer feierten wir alle gemeinsam Weihnachten. Meine Eltern waren erschöpft und bald schlafen gegangen. Ich aber hatte mir vorgenommen, zur Christmette zu gehen. Ich wusste, dass ich allein gehen würde. Das störte mich nicht, denn ich wollte so gerne nochmals in die dunkle Nacht hinaus, ganz für mich.
Auf den Wegen lag noch Schnee, und die Luft war kalt und hielt mich wach.
Damals hatte ich einen großen Wunsch, ja, einen ganz besonderen: ich wollte, es möge mir das Christkind begegnen. Wie sollte dies geschehen? Als die Mette aus war, auf dem Heimweg, spürte ich dann plötzlich eine große Liebe, nicht außen, nicht innen, einfach überall. Diese Liebe war anders als die, die ich schon gekannt hatte, vom ersten Verliebt – sein her oder von Freunden. Ich war wie in einen Mantel gehüllt. Drei Tage lang hielt diese Liebe an. Dann verschwand sie langsam. Nie wieder in meinem langen Leben habe ich so etwas wie damals empfunden. Jetzt ist es mir wieder eingefallen, ich hatte es längst vergessen!“
Großvater atmete tief. „ Bist ein lieber Bub“, sagte er, bewahr` dir dein gutes Herz! So, und nun geh nach Hause, Andreas, und lass alle lieb grüßen von mir!“
Paulina betrat das Zimmer. Andreas wünschte eine „Gute Nacht“ und winkte den beiden noch einmal von der Türe zurück.
Draußen war es finster geworden. Die Kindermette war längst vorbei, das Tor der Kirche versperrt.
Andreas lief nach Hause. Er traf seine Mutter in der Küche an und gab die Grüße von Großvater weiter. „Wie geht es ihm?“ fragte sie. „ Sehr schwach und müde!“ antwortete der Bub.
Als am späten Abend die Bescherung stattfand und alle unter dem Lichterbaum feierten, unterbrach das Läuten von Vaters Handy die Weihnachtsstimmung. Es war ein Anruf von Schwester Paulina, die dem Sohn mitteilte, dass sein Vater eben ganz friedlich in seinem Sessel eingeschlafen und gestorben war. —-
„ Warum hat er nicht warten können?“ meinte die Mutter. „Morgen wollten wir ihn doch alle besuchen!“
„Nein“, sagte Andreas zu ihr. „Heute ist doch das Christkind gekommen!“
Und er weinte und war sich seiner Antwort ganz sicher, da er viel mehr wusste als seine Eltern.