Buchtipp: Bo Giertz – With my own eyes

Bo Giertz hat dieses Buch geschrieben nachdem er in den frühen 1930ger Jah-ren in Palestina war. Dieses Buch erzählt die Geschichten von Jesus Christus mit dem Hintergrund der Erlebnisse von Bo Giertz. Er stellt verschiedene Menschen ans Wort, die Geschichten zu erzählen, mal ist ein Apostel, mal ein Außenste-hender und bei dem folgenden Auszug, die Hirten. Dieses Buch macht uns das Evangelium einfach lieber, weil der Au-tor solch eine Tiefe mit hineinbringt.
Das Buch kann auch auf Englisch bei Amazon abgeladen werden: „With my own eyes.“
Helga Hiestermann

Die Ölbäume schienen ihre Blätter noch ein wenig mehr einzurollen und duckten sich, als ob sie sich vor der Nachtkühle fürchteten. Die Schafe fra-ßen von den grünen Blattrosetten, die der Herbstregen zwischen den Steinen hervorgelockt hatte. Auch sie schienen die Drohung der kommenden Nacht zu spüren. Nur hinten im Westen, weit jenseits der endlosen Kämme der Wüste und hinter der tiefen Grabensenke, in der das Wasser des Toten Mee-res schwer und unbeweglich ruhte, leuchtete der Berg Moab flammend gold-rot. Aber dann stieg der Schatten aus der Tiefe auf und löschte auch diesen Glanz, und eine dunkelblaue Kuppe wölbte sich von Westen her auf und strich den-letzten roten Schimmer vom Himmel fort.

Die Hirten blickten mißtrauisch nach den kleinen, ausgefransten Wolken, die mit dem kalten Wind über den Höhenkamm getrieben kamen. Sollte es viel-leicht doch Regen geben? Wenn es nur endlich ein derartiges Unwetter gä-be, daß auch die Bauern oben in der Stadt begriffen, daß es endlich Zeit war, die Schafe hereinzuholen – einen reißenden Schneeregen, der das Eiswas-ser bis an das Fußende der Bettmatratzen trieb, die die Bauern der Stadt gerade eben auf ihren Fußböden ausrollten.

Hirt sein war ein Hundeleben. Das hatten sie schon tausendmal gesagt. Das war das Letzte, wozu man sich hätte entschließen sollen. Den ganzen Som-mer sich in der brennenden Sonnenhitze herumtreiben, wie eine Geiß die Felswände entlangklettern, an denen man sich verbrannte, wenn man sie berührte, und wie ein Hund zwischen den Steinen schlafen, während die Hyänen ihr widerliches Lachen lachten, niemals Schleuder und Keule von sich legen können, alles Lebendige, was sich bewegte, immer mit mißtrauischen Augen ansehen müssen – und dann immer Sorge haben, sobald eins der Tiere hinter den Steinwänden in einer der schwindelnden Klüfte verschwun-den war …

Und dann diese Winternächte, in denen man vor Kälte erstarrte und Stunde auf Stunde auf den ersten blassen Streifen der Dämmerung über den Bergen Nebo und Pisga wartete, »mehr als die Wächter auf den Morgen, ja mehr als die Wächter auf den Morgen«, wie der König David in dem Psalm sagte und wie die Pilger noch zu. singen pflegten, wenn sie dort hinten von den Höhen bei Jerusalem hinunterzogen, wenn-gleich die nicht begriffen, wie man sich danach sehnen konnte, die Sonne wiederzusehen König David hatte das jedenfalls gewußt. Auch er hatte ja merkwürdigerweise hier in der Wüste Schafe gehütet. Er hatte Durst gelitten und gefroren, hatte sich mit Löwen und Bären herumgeschlagen und war direkt von der Herde gekommen, als er den Philister fällte. Aber ob er auch ein richtiger Hirt gewe-sen war, verlaust wie ein Hund und hungrig wie ein Schakal?

Er war ja doch ein Bauernsohn gewesen, und es war gewiß ein Unterschied zwischen ihm und den armen Schluckern, die mit den Tieren auf Bethlehems Fluren lebten. Es war recht verwunderlich, daß der verräucherte Steinhaufen dort oben die Stadt Davids war und daß zwischen diesen eingestürzten Mauern das Kö-nigsgeschlecht seine Wurzel hatte. Und noch verwunderlicher war, was der Prophet über dieses Bethlehem-Ephrata gesagt hatte, so gering, wie es unter den Geschlechtern Judas war, daß gerade von hier einmal ein Fürst ausge-hen sollte, der ein Hirt Israels sein werde. Gewiß – das war verwunderlich. Aber das war ja der Messias, der Gesalbte. Und wenn er käme, würde alles anders werden. Das war wie ein Lichtschim-mer nach dem Winterdunkel, etwas, worauf man hoffen konnte, während man fror. Sie hatten aufgehört zu schwatzen und rückten an der Steinmauer zusam-men, an der sie saßen und das Dunkel aus den Schluchten heraufkriechen sahen. Dann erhob sich der Älteste von ihnen und stieß seinen langen, rol-lenden Lockruf aus, einen gurgelnden Kehllaut, der die Schafe die Köpfe he-ben und durch das Dunkel spähen ließ.

Aber dann verstummte er plötzlich und blieb, das Antlitz zu der letzten Dämmerung hin gewandt, stehen. »Guckt«, sagte er, »habt ihr jemals so etwas gesehen?« Die anderen drehten sich langsam nach Westen. Der letzte schwache Glanz des Abendhimmels ließ den Horizont wie eine schwarze Silhouette hervortre-ten. Dort oben auf der Höhe bewegten sich kleine Gestalten, die sich klar gegen die Wolken abzeichneten. Das war gewiß nichts besonders Merkwür-diges. Diese letzten Tage hatte man beinahe zuviel davon bekommen. Seit-dem der Kaiser sich diese Sache mit der Schätzung in den Kopf gesetzt hat-te, war ja die ganze Welt auf den Beinen, und Leute, die viele Jahre lang nicht zu Hause gewesen waren, tauchten wieder auf, um ihres Bürgerrechts nicht verlustig zu gehen.

Daß hier noch Nachzügler kamen, war nichts Be-sonderes, und daß sie es eilig zu haben schienen, war auch nicht merkwürdig, wo es so rasch dunkelte. Aber das Verwunderliche war, daß sie ritt. Der Mann ging mit langen Schritten voran und zog den Esel hinter sich her. Man konnte sehen, wie er sich aufgeschürzt hatte und den Stab fest auf den Bo-den setzte. Und die Frau saß tatsächlich im Sattel. Darüber bestand kein Zweifel. Gewiß hatten sie im Laufe der Jahre Tausende ähnlicher Reisege-sellschaften über die Höhen hinziehen sehen, aber immer war er geritten, und sie war mit ihrem Bündel auf dem Kopf oder ihrem Kind auf dem Rücken hinterhergegangen. »Sie muß ziemlich krank sein«, sagte einer von ihnen. Die Gruppe dort hinten verschwand unter der Horizontlinie gerade an der Stelle, wo das Grab Rahels lag und wo der Weg zum Stadttor von dem Land-weg abwich, der weiter nach Hebron und ins Südland ging. Es entstand wie-der Schweigen. Dann erhoben sie sich und begannen, die Schafe für die Nacht zusammenzutreiben.

Stunden später Keuchend stolperten sie über die Wurzeln der Ölbäume und stießen sich an den Steinen, aber sie fanden den Weg mit Hilfe des Sternenlichtes, das zwi-schen treibenden Wolken hindurchsickerte. Die Kunst, sich in pechschwarzer Nacht zurechtzufinden, hatten sie während vieler Nächte gelernt, wenn die Schafe die Dornenhecken durchbrochen hatten oder ein Mutterschaf in der Felswüste verlorengegangen war. Heute Nacht trieb sie etwas, was sie so noch nie erlebt hatten. Ihre Gedan-ken wirbelten durcheinander, und die Worte stockten auf den Lippen, wenn sie davon sprechen wollten.

Das war zuviel auf einmal gewesen: das Licht, das klarer als der Tag war und doch kein Tag; die Herrlichkeit, die sie ganz und gar durchdrang und bei der sie sich als die verworfensten Sünder fühl-ten, gerade weil sie so unbeschreiblich herrlich war. Und dann Er, der plötz-lich dastand und mit einer Stimme sprach, die wie alle Troststellen der Schrift und alle Verheißungen des Hochgelobten zusammengenommen war, lieblich wie die Füße der Boten, wenn sie über die Berge kamen, um gute Botschaft zu verkünden, und voll von dem Jubel, in den die Berge ausbrechen, wenn der Herr sein Volk trösten und sich seiner Bedrückten erbarmen wird. Die größte aller Freuden auf Erden verkündete er ihnen: Dort droben in der Stadt Davids sei der Messias geboren. In diesem Augenblick wurde der gan-ze Himmel voll vom Jubel der Heerscharen. Es brauste und glitzerte und sang. Da war ein Glanz, ein Klang und eine Herrlichkeit, die keine Worte be-schreiben konnten.

In all diesem Unbegreiflichen war eins durchaus gut zu verstehen. Das war das Zeichen, von dem er gesprochen hatte, das Zeichen, das Gott ihnen als Siegel auf all dieses gegeben hatte. Das zu suchen waren sie nun unter-wegs: das neugeborene Kind, das sie finden sollten in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.

Sie waren zu dem großen, offenen Platz vor der nordöstlichen Ecke der Stadt gekommen. In einer der Felshöhlen leuchtete ein kleiner, flackernder Schein von einer Öllampe. Dieses Licht war etwas Ungewöhnliches. Die Hirten kannten die Grotte dort hinten gut.

Erst als sie in das Felsgewölbe eintraten, bekamen sie die Erklärung. Mit einem einzigen Blick hatten sie die ganze Szene erfasst: das blasse Antlitz der jungen Frau, die sie mit guten Augen ansah, den Mann, die Tiere in der Ecke, und das Kind, das Zeichen, das zu sehen ihnen verheißen war, und daß nun da vor ihren Augen lag.

Da begannen sie stammelnd zu erzählen. Sie fühlten sich hier so merkwür-dig zu Hause ….. und mitten in dieser Armut fanden sie das Zeichen, das ihnen verheißen worden war. Erstaunt und glücklich, mit gedämpften Stim-men und ungeschickte Zärtlichkeit standen sie vor der Krippe.

“Genau wie einer von uns”, sagte der Älteste von ihnen.

Dann mussten sie zurück zu ihren Tieren gehen. Als sie unter den grossen Bäumen draußen vor der Grotte dahinschritten, mussten sie an etwas seltsa-mes denken. Es hieß, daß hier der Platz sei, wo Samuel mit Isai und seinen Söhnen Opferfest gehalten habe. Hier hatte er Oel auf das Haupt Davids ausgegossen und ihn zum König gesalbt. Hier war der Anfang des Glanzes über dem Hause Davids gewesen, und hier war also heute Nacht der gebo-ren, der der letzte und größte von allen Herrschern auf dem Throne Davids werden sollte.

Da priesen sie Gott und sangen das Lied des Propheten Micha von Bethle-hem Ephrata. Und als sie an die Stelle kamen, wo geschrieben steht: „Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit,
daß die, so gebären soll, geboren habe…“

Da brachen sie in neue Lobpreisungen aus. Sie priesen sich glücklich, daß sie zu sehen bekommen hatten, was Jesaja vorausgesagt hatte: “Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben.” Und zuallermeist priesen sie Gott, daß der, der Wunderbar-Rat, Kraftheld, Friedefürst heißen sollte, ganz wie einer von ihnen gekommen war, ebenso arm und unbeachtet wie die elen-desten unter seinen Brüdern in Israel.